MIGRATION UND FLUCHT

THEATER ALS VERHANDLUNGS- UND PARTIZIPATIONSRAUM IM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN VERGLEICH (1990 BIS HEUTE)

NFG019 Nachwuchsforschergruppe - Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung
Dissertationsprojekte
  • 5. Dissertationsprojekte
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    Für die Konzeption der Einzelprojekte ist ein induktives Vorgehen wichtig, das bei der Sichtung der Theaterstücke beginnt. Der Blick auf die Textproduktion der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte ergibt zahlreiche Besonderheiten, die vielversprechende Ansatzpunkte für die drei Dissertationsprojekte liefern. Folgende Fragestellungen kristallisieren sich heraus:

  • Bereich 1: Intertextualität und ihr Verhältnis zur Nationalkultur
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    – Untersuchungsmaterial: Theatertexte –

    In der Auseinandersetzung mit Fremdheit, die mit Verstehens- und Darstellungsproblemen einhergeht, wird auffällig oft auf Modelle der griechischen Antike und der europäischen Kulturtradition seit dem Mittelalter zurückgegriffen. Dabei lassen sich zwei verschiedene Tendenzen verfolgen, die miteinander in Beziehung zu bringen sind.
    Zum einen ist dies Intertextualität, die die Thematik im Kontext einer Nationalkultur verhandelt, wobei es zu bewussten Brechungen kommt, wie in Emine Sevgi Özdamars Theaterstück Keloglan in Alamania oder Die Versöhnung von Schwein und Lamm (1991) über die drohende Ausweisung eines in Deutschland aufgewachsenen Türken, in dem auf surrealistische Weise u.a. Elemente der deutschen Volkstradition aufgegriffen werden. Zum anderen lässt sich Intertextualität untersuchen, die dezidiert eine europäische Perspektive über die Länder hinweg eröffnet, indem auf Klassikern der griechischen Antike (z.B. Homers Odyssee) oder der neueren Weltliteratur (etwa Cervantes’ Don Quijote oder Defoes Robinson Crusoe) aufgebaut wird.
    Im Raum der Kunst werden dadurch auch die Stücke des jeweils anderen Landes anschlussfähig, wodurch sich ein textuelles dialogisches Netz über die Zeiten und Grenzen hinweg eröffnet. Eine solche Konstellation findet sich z.B. zwischen Aischylos’ Die Schutzflehenden (ca. 466 v. Chr.), Jelineks Die Schutzbefohlenen (2013) und Die Schutzlosen. Les Zéros-Morts (2014, deutsch-burkinisches Projekt). Bernard Manciets Iphigénie devant la gare. Les Émigrants (1999) nimmt auf Euripides’ Iphigenie-Dramen Bezug, was der Autor allerdings in einer dezidiert französischen Traditionslinie (mit Racine und Ronsard) fortschreibt. In Angélica Liddells Stück Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken (Premiere 30. März 2017 in der Schaubühne Berlin) verwebt sich ein dystopisches Zukunftsszenario der geschlossenen Grenzen mit den Schriften Rousseaus und Diderots.
    Feststellbar ist die Aufnahme eines Dialogs, indem ein bestehendes kulturelles Archiv genutzt und für neue Anknüpfungen geöffnet wird. Dies steht im Kontext von Migration und vor allem von Flucht in einer besonderen Spannung, da es hier um Erfahrungen der Vereinzelung und der Fremdheit geht. Mit Flucht sind traumatische Erfahrungen verbunden, die sich kaum ausdrücken und kaum vermitteln lassen. Erschwert wird dies durch den Verlust vertrauter Bezugskontexte. Der Rekurs auf literarische Traditionen im Theater kann hier eine wichtige Aufgabe erfüllen: als Rückgewinn haltgebender Orientierungen im Bereich der Kunst und nicht zuletzt als Mittel der Kommunikation zwischen Geflüchteten und der Gesellschaft des Aufnahmelandes (was von beiden Seiten ausgehen kann). Welche Ausprägungen und welche Funktionen haben dabei intertextuelle Bezüge? Welche Rolle spielt dies für das kollektive Gedächtnis Europas (wobei zu diskutieren bleibt, in welcher Weise davon überhaupt auszugehen ist)? In welchem Verhältnis stehen dabei Aneignung an ‚Eigenes‘ (womöglich auch in einem national-spezifischen Kontext), Rückführung auf Bekanntes und Erweiterung sowie Öffnung? Denn die Geflohenen bringen andere kulturelle Muster und Vorbilder nach Europa mit.
  • Bereich 2: Theater und Schule im Kontext der Einwanderungsgesellschaft
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    – Untersuchungsmaterial: Theatertexte und ausgewählte Theaterproduktionen –

    Der Begriff „postmigrantisch“ wurde geprägt, um Gesellschaften Rechnung zu tragen, die Einwanderungsgesellschaften sind. Während Migration häufig „als Ausnahmezustand, als Transitsituation, wahrgenommen“ werde, nehme die „postmigrantische Perspektive“ „Migration und Heterogenität als gegeben an“ (Canan/Foroutan 2016: 14). Entscheidend sei eine „Analyseperspektive, die sich mit den Konflikten, Identitätsbildungsprozessen, sozialen und politischen Transformationen auseinandersetzt, die nach erfolgter Migration und nach der Anerkennung, ein Migrationsland geworden zu sein, einsetzen” (Foroutan 2016: 232). Hess/Kasparek/Kron u.a. betonen die Unumkehrbarkeit und zukünftige Faktizität der Migration: „Wir leben in einer post-migrantischen Gesellschaft, in der eigene oder familiäre Migrationserfahrungen und Mehrfachzugehörigkeiten alltäglich sind.“ (2017: 18) Für die Theaterintendantin Shermin Langhoff geht es um „Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen“ (Langhoff 2011: 400).
    Zugleich offenbart sich an den Debatten im Umfeld dieses Begriffs, wie nachhaltig immer noch eine externe Herkunft zum Kriterium gemacht wird, und zwar generationenüberschreitend auch in Bezug auf die bereits in Deutschland aufgewachsenen Nachkommen der Einwanderer. Es zeigt sich hier ein grundsätzliches Dilemma, indem trotz des Versuchs, ein neues Paradigma aufzurufen, der begriffliche Rekurs auf Migration leitend bleibt und so indirekt ein Wahrnehmungsmuster reproduziert wird, das einer möglichen Selbstwahrnehmung als normale deutsche Jugendliche entgegensteht. Im Blick ist hier die zweite Generation (und folgende), die schulisch bereits in Deutschland sozialisiert wurde (Sharifi 2011a: 44). Das Theater kann dabei zu einem Austragungsort solcher Debatten um Selbst- und Fremdbilder werden. Aus postkolonialer Perspektive und mit Blick auf postmigrantisches Theater oder die Kontroverse um Blackfacing an deutschen Bühnen zeichnet Tania Meyer in ihrer für dieses Projekt wichtigen Studie Gegenstimmbildung (2016) Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit nach und plädiert für eine Repolitisierung von Theater und Theaterpädagogik. In den deutschen Spielplänen ist das Thema schon länger präsent. In Frankreich stellt sich die Situation anders dar, denn die ethnische und kulturelle Diversität im Land ist ein Erbe der kolonialen Vergangenheit, und im französischen Theater ist weniger eingeführt, dies als ‚postmigrantische‘ Kulturenvielfalt im eigenen Land zu reflektieren (Rabih 2015: 76). Welche Entwicklungen sind in beiden Ländern zu verzeichnen?
    Vor diesem Hintergrund ist zu untersuchen, welche Identitätszuschreibungen und Bilder vom Fremdsein in Theaterstücken entwickelt werden, die von jungen Deutschen bzw. jungen Franzosen mit familiärem Migrationshintergrund handeln. Dabei geht es um Deutschland und Frankreich als Einwanderungsländer und einen möglichen Bildungsauftrag des Theaters für Jugendliche. Das Projekt kann sich auf Theaterarbeit an Schulen richten oder auch auf eine Untersuchung von Theatertexten über Schule.
    In den Stücken, die die Schule als Brennpunkt eines mehrkulturellen Zusammenlebens adressieren, wird die Bedeutung von Theater als Verhandlungs- und als Partizipationsraum besonders greifbar. Ein eindrückliches Beispiel, das zugleich den Brückenschlag vom französischen in den deutschen Raum betreibt, ist Nurkan Erpulats und Jens Hilljes viel gespieltes Theaterstück Verrücktes Blut (2010) (Adaptation von Jean-Paul Lilienfelds Film La Journée de la jupe, 2008): Rollenspiel und Empowerment durch Theater wird hier auf zwei Ebenen zum Thema. Die erste, fiktionsinterne Ebene vollzieht sich im Klassenzimmer während des Theaterkurses, in dem (unter Rekurs auf Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung) Szenen aus Kabale und Liebe und vor allem Die Räuber rezitiert oder gespielt werden. Die zweite Ebene entsteht durch eine Fiktionsbrechung auf der Bühne, indem die Schauspieler eingangs erkennbar Rollen übernehmen, die sie am Ende, als sich die Situation dramatisch und überraschend verschärft hat, wieder verwerfen. Möglichkeiten und Scheitern einer ‚vernünftigen‘ und ‚ästhetischen Erziehung‘ im Sinne Schillers stehen dabei im Raum und werden für das ‚postmigrantische‘ Berlin durchprobiert. Allgemeine Debatten um Kopftuch, Bildungsnotstand, Integration, Parallelgesellschaften werden ebenso wie ‚Kanakengesten‘ und ‚Checkertum‘ auf die Spitze getrieben und zugleich unterlaufen, kulminierend in einer Dekonstruktion aller vermeintlich klaren Identitäten. Vergleichbar finden wir Molières und Marivaux’ Kritik an der Ständegesellschaft des 17. Jahrhunderts in die aktuellen sozialen Brennpunkte von Paris verlegt, wenn wir uns mit Theater-Filmen (die explizit mit dem Potential von Theater spielen) wie dem bereits genannten Journée de la jupe oder Abdellatif Kechiches L’Esquive (2003) beschäftigen.
    Andere Beispiele für Stücke mit dem Handlungsort Schule sind: Thomas Hoffmanns Unser fremdes Haus (2012), Luise Rists Heimat Fremde Heimat (2008), Manuel Schöbers Tayfun kommt wieder (1990), Evelyne de la Chenelières Bashir Lazar (2006), Koffi Kwahulés Bintou (1997) oder Luc Boulangers Mets-toi dans ma peau (2002). Letzteres sensibilisiert für die Theatralität kulturellen, zwischenmenschlichen Handelns, indem Alltagshandlungen als ‚Akte‘, Wirklichkeit als ‚Inszenierung‘ und Identitäten als ‚Rollen‘ erfahrbar gemacht werden. Gerade beim Schultheater geht es neben der Repräsentation oft auch um Präsentation, um Selbst- statt ausschließlich um Figurendarstellung. „Theater ist dann eine Schule des Sehens, eine Schule des Sprechens, eine Schule des (sich) Zeigens, eine Schule des sich Begegnens und letztlich eine Schule der Teilhabe und der Integration.“ (Sting 2010: 30) Die Frage, wie Theaterprojekte in einer kulturell komplex strukturierten Gesellschaft und ihren Identitätskonstruktionen intervenieren, ist hier zielführend.
    Das Projekt lässt sich (bei vorliegendem pädagogischen Hintergrund des Stipendiaten/ der Stipendiatin) mit Anteilen verbinden, die sich mit theaterpraktischer Arbeit an Schulen auseinandersetzen. Ein wichtiges Desiderat erscheint hier die Erweiterung bestehender Studien zu interkulturellen Theaterprojekten mit Schüler/innen (Hoffmann/Klose 2008, Sting/Köhler/Hoffmann/Weiße 2010) sowie die Erforschung von Ansätzen einer integrationsfördernden Theaterarbeit mit Flüchtlingskindern in den Schulen. Die Datenbank kann als Plattform dienen und dazu ausgebaut werden, dass sie einerseits spezifizierte Informationen für Lehrer/innen und Hochschullehrer/innen liefert, und andererseits ermöglicht, Rückmeldungen sowie Didaktisierungsvorschläge der Lehrer/innen einzustellen.
  • Bereich 3: Grenzüberschreitungen zwischen Bühnen-Fiktion und Authentizität
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    – Untersuchungsmaterial: Theatertexte, ihre Aufführungen und Rezeption –

    Im Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theater und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Zu untersuchen ist, in welcher Weise und mit welcher Wirkung (Aufführung und Rezeption: auch im jeweils anderen Land) Elemente der außerliterarischen Realität Eingang in Theaterstücke über Fremdheit, Migration und vor allem über Flucht finden.
    Angesichts des existenziellen Themas von Verfolgung und Flucht sowie von Fremdenfeindlichkeit und einer anwachsenden rassistisch-nationalistischen Stimmung verändert sich auch das Theater. Auffallend oft wird der Rahmen des Fiktionalen gebrochen und der Realitätsanspruch in den Theaterstücken, z.B. durch die Einbindung von ‚Experten des Alltags/Lebens‘, markiert. Elemente des Dokumentarischen sind hier hervorzuheben, beispielsweise werden Passagen aus authentischen Erzählungen und Interviews oder Pressematerialien in die Stücke montiert, was mit einer Auflösung des traditionellen Rollensprechens einhergeht (Sprecherstimmen, die mehrere Parts übernehmen, Chor- und Kommentatoreneinsatz o.ä.).
    Der togolesische Autor Kangni Alem etwa erinnert in seinem Stück Atterrissage (2002) an die beiden Jungen aus Guinea, die 1999 im Frachtraum eines Flugzeugs nach Brüssel erfroren sind. Ihr Brief an die „Mitglieder und Verantwortlichen von Europa“, den sie mit sich trugen, machte weltweit Schlagzeilen. Nicole Oder inszenierte mit Lucia Jays Ultima Ratio. Ein Kirchenasyl-Fall die reale Fluchtgeschichte eines Ehepaares aus Somalia über die Sahara, Libyen und Lampedusa nach Deutschland als ‚Live Graphic Novel‘ am Heimathafen Neukölln (2015). Nuran David Calis’ NSU-Stück Die Lücke basiert auf Gesprächen; die Uraufführung (Schauspiel Köln, 2014) fand im Theater und auf der Straße statt und die Schauspieler traten gemeinsam mit den Befragten auf. Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Schattenstimmen (2008) beruft sich auf Unterredungen mit illegalen Zuwanderern in Deutschland, die in Form von neun Monologen präsentiert werden. Überhaupt sind Monologstücke häufig (z.B.: Ali Jalaly: Barfuß Nackt Herz in der Hand, 1996; Mario Batista: Langue Fourche, 2005; Philippe Blasband: L‘Invisible, 2003; Véronika Boutinova: Monologues des migrateurs/Calais cul-de-sac, 2010; Alain Gibaud: L‘Odyssée d‘Ahmed, 2010; im Wechsel zwischen Chor und Monolog Gerhard Meister: In meinem Hals steckt eine Weltkugel, 2011). Mit Zuspitzung auf die Flüchtlingsthematik bilden zum einen die Theaterstücke von Elfriede Jelinek, insbesondere Die Schutzbefohlenen, welches seit 2014 in vielen deutschen Städten gespielt wird (Urlesung mit Lampedusa-Flüchtlingen 2013 in der St. Pauli-Kirche, Hamburg) und zum anderen die Produktionen des Théâtre du Soleil (vor allem Ariane Mnouchkines Le Dernier Caravansérail – Odyssées) einen zentralen Ausgangspunkt. Mnouchkines humanistisches Testimonialtheater über Flüchtlinge aus Kriegs- und Armutsgebieten, welches auf über 400 Interviews in Flüchtlingslagern weltweit basiert, das 2004 auch in Deutschland, erstmals bei der Ruhrtriennale in Bochum, aufgeführt wurde. Es ist eine beeindruckende theatrale Inszenierung individueller oraler Zeugnisse, denn es basiert nicht auf einem Dramentext, sondern ausschließlich auf einem Ton- und Videoarchiv.
    Deutlich wird, dass eine Untersuchung von Grenzüberschreitungen zwischen Fiktionalität und Faktualität nicht nur von Dramentexten ausgehen kann, sondern die Aufführungssituation und auch Theaterformen jenseits des dramenbezogenen Theaters einbeziehen muss. Eine große Bedeutung kommt hier den mitwirkenden Akteuren zu. Die Künstlergruppe Rimini Protokoll etwa betreibt eine besonders weitgehende Auflösung der Theater-Konvention, indem sie Menschen, die keine Schauspieler sind, in inszeniertem Rahmen und vor Publikum ihre eigene Geschichte oder Realitätsmomente präsentieren lässt – oder wie in Evros Walk Water (2015) sogar Zuschauer zu agierenden Stellvertretern macht. Der Effekt ist eine verbindende ‚Zusammenarbeit‘ zwischen Besuchern und Darstellern über große kulturelle, biographische und räumliche Distanzen hinweg.
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