MIGRATION UND FLUCHT

THEATER ALS VERHANDLUNGS- UND PARTIZIPATIONSRAUM IM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN VERGLEICH (1990 BIS HEUTE)

Bestandsaufnahme

3a. Bestandsaufnahme Theatertexte im Umfeld von Migration und Flucht

Zunächst gilt es, aus einer inter- bzw. transkulturellen Perspektive (Terkessidis 2010, Welsch 2010, Müller/Ueckmann 2013, Langenohl/Poole/Weinberg 2015) auf das Theater ein derzeit noch zu wenig bearbeitetes Feld zu erschließen. Dass hier, im Vergleich zur Erzählliteratur, immer noch Grundlagenforschung zu leisten ist, betonen Regus (2009) und Schneider (2011). Seit Anfang der 1990er Jahren hat immerhin eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Inter- und Transkulturalität eingesetzt, auf der sich gut aufbauen lässt. Gegenstand dieser Studien sind vor allem Zusammenhänge mit Postkolonialismus, Alterität, Rassismus und Immigration sowie Formen postmoderner Dramatik in globalisierten Gesellschaften (z.B. Balme 1995, 2001, Gilbert/Tompkins 1996, Fischer-Lichte 1997, Pavis 1996 u. 2010, Pfeiffer/Birbaumer 1999, Holledge/Tompkins 2000, Fensham 2004, McEvoy 2006, Lauwaert 2007, Sappelt 2007, Grehan 2009, Sting/Köhler/Hoffmann/Weiße 2010, Leppek 2010, Hissy 2012, Gall/Nickel 2013, Schößler 2010 u. 2013, Pewny 2014, Lüsebrink 2014, Birkner/Geier/Helduser 2014, Lease 2014, Meyer 2016, Brandstetter/Hartung 2017). Die Thematik der Flucht ist dabei bislang kaum in den Blick genommen worden (Jeffers 2012, Pelka 2016).
Anknüpfen lässt sich auch an allgemeine Arbeiten zu Entwicklungen in der Gegenwartsdramatik: „Postdramatisches Theater“ (Lehmann 1999), „Krisen der Repräsentation“ (Fischer-Lichte 2001), „Drama nach dem Drama“ (Pelka/Tigges 2011). Denn in Theatertexten für ein explizit (post)migrantisches und transkulturelles Theater wird häufig mit Techniken der Fragmentierung gespielt: d.h. mit der Vervielfältigung von Orten, Zeiten, Themen, Protagonisten, Erinnerungskulturen und Sprachen und mit starken intertextuellen Bezügen. Für Tendenzen einer neuen Ethik-Bewegung bieten Pewny (2011) und Mumford (2013) einen geeigneten Bezugspunkt. Dabei stellt sich mit neuer Schärfe die Frage, wer für wen spricht und ob bzw. unter welchen Bedingungen es legitim ist, den ‚Anderen‘ auf der Bühne stellvertretend darzustellen (Heeg 2013, Heinicke 2015, Meyer 2016).
Die komparatistische Ausrichtung des Projekts ist neu. Bei der Beschäftigung mit Transkulturalität dominieren Studien, die grenzüberschreitendes Schreiben entweder innerhalb eines Kulturkreises untersuchen – z.B. das Théâtre de l’immigration oder das Théâtre noir in Frankreich bzw. das ‚Postmigrantische‘ Theater in Deutschland (Mouzet 2015, Sharifi 2011a u. 2011b, Abushi 2013, Yildiz/Hill 2014) – oder eine nationalliterarische Rahmung bewusst vermeiden und verschiedene Beispiele unterschiedlicher Provenienz nebeneinanderstellen (Pewny 2014). Die geplante Nachwuchsforschergruppe geht anders vor: Mit dem doppelten Blick auf Deutschland und auf Frankreich lässt sich der Faktor des Nationalkulturellen mit reflektieren, was umso wichtiger ist, als Phänomene der Überschreitung des nationalen und kulturhegemonialen Denkens im Zentrum stehen. Die Textauswahl muss dabei auch Stücke berücksichtigen, die zwar nicht in Deutschland bzw. Frankreich geschrieben wurden, aber dem Sprachraum angehören und im jeweiligen Land wirkmächtig geworden sind (z.B. Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen oder Stücke frankophoner Autor/innen aus ehemaligen französischen Kolonien).
Unser Projekt berührt sich mit den interdisziplinären Forschungsfeldern der Mobility Studies (Urry 2000, Sheller/Urry 2006 u. 2016, Cresswell 2006, Sheller 2014) und Memory Studies (Erll/Nünning 2008, Hahnel-Mesnard/Lienard-Yeterien/Marinas 2008, Blanchard/Veyrat-Masson 2008) und deren Schnittpunkten, die in folgender Frage kulminieren: Welche Potentiale, aber auch welche Grenzen ergeben sich aus der Vervielfältigung von Erinnerungskulturen in einer stark divergierenden europäischen Gesellschaft? Denn mit den Migrant/innen und den Geflohenen kommen auch andere Erinnerungen, Sprachen, Geschlechterrollen und Familienmodelle nach Europa. Doch führt dies wirklich zu einer Vervielfältigung von Erinnerungsdiskursen oder nur zu einer Globalisierung bestimmter Themen, die sich vor allem aus westlichen Vergangenheitsnarrativen speisen (El-Tayeb 2016: 25)?
Um die Voraussetzung zu schaffen, einen Überblick über die im Betrachtungszeitraum entstandenen/wirksamen Theaterstücke in Deutschland und in Frankreich zu gewinnen, wurde eine Datenbank eingerichtet (Stand der Recherche 07/2017: ca. 200 Stücke), die zunächst der internen Information innerhalb der Nachwuchsforschergruppe dient und kontinuierlich ausgebaut wird. Geplant ist, dies zu einer öffentlich nutzbaren Datenbank weiterzuentwickeln.