MIGRATION UND FLUCHT
THEATER ALS VERHANDLUNGS- UND PARTIZIPATIONSRAUM IM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN VERGLEICH (1990 BIS HEUTE)
Partizipationsraum
3c.Theater als Partizipationsraum
Theater ist ein Raum der Handlung und der Repräsentation. Dies betrifft zunächst einmal die Figuren des Theaterstücks und ihre dargestellten Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten. Es betrifft aber auch die Akteure der Theaterproduktion: Wer stellt Fremde dar? Und (wie) werden Elemente der außerliterarischen Realität eingebracht? Ein besonders prominent gewordenes Beispiele ist Nikolas Stemanns Theaterproduktion von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (2013) mit Lampedusa-Flüchtlingen in einer Kirche in Hamburg bzw. im Thalia Theater.
Es stellt sich konkret die Frage danach, welche Resonanz die Theaterarbeit findet und auf welche gesellschaftlichen Kreise sich dies bezieht. Im Versuch, ein breiteres Publikum anzusprechen und einen Dialog jenseits der Bühne zu eröffnen, wandelt sich auch das Theater, indem z.B. Aufführungen von öffentlichen Diskussionsrunden und politischen Aktionen flankiert werden. In diesem Umfeld gewinnen auch alternative Theaterformen an Bedeutung, Performance-Projekte oder dokumentarisch arbeitende Künstlergruppen, bei denen die Grenzen zwischen Zuschauern und Akteuren, zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgelöst werden. Das Kunstprojekt „EcoFavela Lampedusa-Nord“ auf Kampnagel in Hamburg oder die Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen im Hamburger Theater-Projekt „Hajusom“ wären hier zu nennen – ebenso wie die Einbindung von Flüchtlingsorganisationen: So formierte sich z.B. in Berlin die Initiative „My right is your right“, zu der sich viele Theater und zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengeschlossen haben. Das Maxim Gorki Theater stellt mit seinem 2016 gegründeten Exil Ensemble sieben exilierten Performer/innen aus Afghanistan, Palästina und Syrien für zwei Jahre Arbeitsplätze zur Verfügung, um der Falle, aus eigener Sicht ‚den Anderen‘ zu repräsentieren, entgegenzuwirken und um geflüchtete Künstler/innen nicht nur als Protagonist/innen ihrer Flucht-Biographie zu Wort kommen zu lassen.
Die Initiative Exil Ensemble macht auf einen weiteren Problemkomplex aufmerksam: Wie verhält sich die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, zur Zusammensetzung der Ensembles? Wird die Frage danach, wie sehr die Diversität der Gesellschaft sich auch im und durch das Theater abbildet, zum Gegenstand öffentlicher Debatten? Ein Beispiel sind die deutschen und französischen Inszenierungen von Dea Lohers Stück Unschuld: Die jeweilige Besetzung der Rollen der schwarzen Asyl-Suchenden wurde zum Gegenstand der Kritik (Schneider 2015: 64). Die Kölner Bühne der Kulturen, das Mülheimer Theater an der Ruhr (1980 u.a. gegründet von Roberto Ciulli, der 1965 als ‚Gastarbeiter‘ in die Bundesrepublik migriert war), das theater peripherie in Frankfurt oder die Berliner Bühnen (Ballhaus Naunynstraße, Maxim Gorki Theater, Hebbel am Ufer oder Heimathafen Neukölln; die beiden letztgenannten organisierten 2009 das erfolgreiche Festival Beyond Belonging) haben hier eine Vorreiterrolle als selbsterklärte ‚postmigrantische‘ Theaterhäuser mit Schauspielern/innen und Regisseuren/innen mit mehrkulturellen Hintergründen, in denen sich also die demographische Situation auch im Ensemble widerspiegelt. Beispiele wie die KinderKulturKarawane (2005), wo u.a. Kinder auf der Flucht Geschichten aus ihrem Leben spielen oder die Schreib- und Theaterprojekte von Nuran Calis wie urbanstories am Schauspiel Hannover (2005) oder Homestories – Geschichten aus der Heimat am Schauspiel Essen (2006) belegen das besondere Potential von biographischem Theater und sozialer Ästhetik. Der produktive Umgang mit Differenz und die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption von Theater ist eine Herausforderung an die Institution. Problematisch ist z.B., so Lena Schneiders Diagnose des französischen Gegenwartstheaters, dass schwarze Darsteller noch immer viel zu häufig ‚Diener oder Dealer‘ oder anders stigmatisierte Rollen spielen (Schneider 2015). Exemplarisch sei dafür die prestigeträchtige Comédie Française angeführt: Das einzige schwarze Ensemble-Mitglied, der Kameruner Bakary Sangaré, spielt i.d.R. in Europa gestrandete afrikanische Migranten oder Asylsuchende (wie auch in der Pariser Inszenierung von Lohers Unschuld 2015). Mit Blick auf die Rezeption stellt sich auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der bestehenden Strukturen. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der deutschen Bevölkerung, der nie oder selten kulturelle Angebote wahrnimmt, bei über 50 % liegt (vgl. Zentrum für Audience Development 2009: 2), muss gerade auch das Theater seine Relevanz in einer heterogenen Gesellschaft deutlich machen.
Grundsätzlich steht die Frage nach eigener und zugesprochener Handlungsfähigkeit zur Debatte – wie auch nach Möglichkeiten eines Empowerment. Für diese Perspektive ist ein sozialwissenschaftliches Fundament erforderlich. Produktiv einzubeziehen sind – mit Blick auf die Verarbeitung der Flüchtlingskrise auf deutschen und französischen Bühnen – wesentliche Positionen der aktuellen sozialpolitikwissenschaftlichen Grenzregime-Forschung (Transit Migration Forschungsgruppe 2007, Hess/Kasparek 2010, Klepp 2011, Hess 2013, Hess/Kasparek/Kron u.a. 2017). Statt eine Viktimisierung und das Problem der Illegalität der Flüchtlinge zu betonen, kann so auch eine individuelle Handlungsmacht dieser ‚Grenzgänger‘ aufgezeigt werden, ohne real existierende Machtverhältnisse (etwa durch ökonomische Zusammenhänge und Verteilung der Ressourcen) zu verschleiern. Betrachtet man jedoch die Konzeptualisierung der europäischen Migrationspolitik sowohl in politischen als auch in wissenschaftlichen Arbeiten als ‚Festung Europa‘ oder die viktimisierende Rede von Flüchtlingen in den Medien, offenbart sich ein anderes Bild. Hier wird der Migrant nicht als Akteur dargestellt, der sein Recht auf Bewegungsfreiheit praktiziert (Heimeshoff/Hess/Kron u.a. 2014: 12), sondern „nahezu ausschließlich als Opfer der Grenzsicherungsmaßnahmen dieser Festung“ (Klepp 2011: 27). Hess fordert dazu auf, „ausgehend von der ‚Kraft der Migration‘ den geschichtlichen Verlauf (neu) zu denken“ und „die Migration als wesentlichen Beweger der Geschichte einzusetzen“ (Hess 2013: 119). Die Autor/innen des Bandes Der lange Sommer der Migration (Hess/Kasparek/Kron u.a. 2017: 6) sprechen bewusst nicht von einer ‚Flüchtlingskrise‘, sondern von einer kurzzeitigen Niederlage der europäischen Mobilitätsordnung und des europäischen Grenzregimes (welches über offene innereuropäische Grenzen und eine rigide Außengrenzsicherung funktioniert). Die Grenzen Europas sind nicht ausschließlich die klar gezogenen Linien der Nationalstaaten, sondern dynamische Aushandlungsräume, „an denen sich Kämpfe um die Neuzusammensetzung von Arbeit und Kapital, um Staatlichkeit, Rechte und soziale Ungleichheiten verdichten“ (Heimeshoff/Hess/Kron u.a. 2014: 9). Mit der Migration zu denken, bedeutet, eine offenere Haltung gegenüber scheinbaren identitären und nationalen Sicherheiten einzunehmen (Chambers 2012; Nail 2015). Außerdem drängt sich die Frage auf, warum
das Thema Migration praktisch alle anderen Themen wie Klimawandel, soziale Ungleichheit, zerfallende Staaten, also die eigentlichen Ursachen der Migration von den Titelseiten der öffentlichen Medien verdrängt (Bauman 2016).
Das Theater dient hier als alternativer und sinnlich-erweiterter Verhandlungsraum, der kritische Sichtweisen und Reflexionsebenen eröffnet und andere Konzepte erprobt. In einigen Stücken des Betrachtungszeitraums sind z.B. originelle Perspektivverschiebungen zu konstatieren, die den Blick auf die ‚Flüchtlingsfrage‘ verändern. Beispiele sind ein Stück über die Deutschen als Migrantengruppe in Österreich (Rupert Henning/Florian Scheuba: Cordoba – das Rückspiel, 2010), ein Stück über weiße Schiffbrüchige im Mittelmeer, die nach Libyen abgeschoben werden (Richard Schuberth: Frontex – Keiner kommt hier lebend rein, 2014) oder ein Stück über eine internationale Studierenden-WG, die durch einen bürokratischen Fehler als Familie eingeordnet wird und nun dem Bild der perfekten deutschen Familie zu entsprechen versucht (Stefan Vögel: Achtung Deutsch, 2013).
Es stellt sich konkret die Frage danach, welche Resonanz die Theaterarbeit findet und auf welche gesellschaftlichen Kreise sich dies bezieht. Im Versuch, ein breiteres Publikum anzusprechen und einen Dialog jenseits der Bühne zu eröffnen, wandelt sich auch das Theater, indem z.B. Aufführungen von öffentlichen Diskussionsrunden und politischen Aktionen flankiert werden. In diesem Umfeld gewinnen auch alternative Theaterformen an Bedeutung, Performance-Projekte oder dokumentarisch arbeitende Künstlergruppen, bei denen die Grenzen zwischen Zuschauern und Akteuren, zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgelöst werden. Das Kunstprojekt „EcoFavela Lampedusa-Nord“ auf Kampnagel in Hamburg oder die Arbeit mit minderjährigen Flüchtlingen im Hamburger Theater-Projekt „Hajusom“ wären hier zu nennen – ebenso wie die Einbindung von Flüchtlingsorganisationen: So formierte sich z.B. in Berlin die Initiative „My right is your right“, zu der sich viele Theater und zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengeschlossen haben. Das Maxim Gorki Theater stellt mit seinem 2016 gegründeten Exil Ensemble sieben exilierten Performer/innen aus Afghanistan, Palästina und Syrien für zwei Jahre Arbeitsplätze zur Verfügung, um der Falle, aus eigener Sicht ‚den Anderen‘ zu repräsentieren, entgegenzuwirken und um geflüchtete Künstler/innen nicht nur als Protagonist/innen ihrer Flucht-Biographie zu Wort kommen zu lassen.
Die Initiative Exil Ensemble macht auf einen weiteren Problemkomplex aufmerksam: Wie verhält sich die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, zur Zusammensetzung der Ensembles? Wird die Frage danach, wie sehr die Diversität der Gesellschaft sich auch im und durch das Theater abbildet, zum Gegenstand öffentlicher Debatten? Ein Beispiel sind die deutschen und französischen Inszenierungen von Dea Lohers Stück Unschuld: Die jeweilige Besetzung der Rollen der schwarzen Asyl-Suchenden wurde zum Gegenstand der Kritik (Schneider 2015: 64). Die Kölner Bühne der Kulturen, das Mülheimer Theater an der Ruhr (1980 u.a. gegründet von Roberto Ciulli, der 1965 als ‚Gastarbeiter‘ in die Bundesrepublik migriert war), das theater peripherie in Frankfurt oder die Berliner Bühnen (Ballhaus Naunynstraße, Maxim Gorki Theater, Hebbel am Ufer oder Heimathafen Neukölln; die beiden letztgenannten organisierten 2009 das erfolgreiche Festival Beyond Belonging) haben hier eine Vorreiterrolle als selbsterklärte ‚postmigrantische‘ Theaterhäuser mit Schauspielern/innen und Regisseuren/innen mit mehrkulturellen Hintergründen, in denen sich also die demographische Situation auch im Ensemble widerspiegelt. Beispiele wie die KinderKulturKarawane (2005), wo u.a. Kinder auf der Flucht Geschichten aus ihrem Leben spielen oder die Schreib- und Theaterprojekte von Nuran Calis wie urbanstories am Schauspiel Hannover (2005) oder Homestories – Geschichten aus der Heimat am Schauspiel Essen (2006) belegen das besondere Potential von biographischem Theater und sozialer Ästhetik. Der produktive Umgang mit Differenz und die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption von Theater ist eine Herausforderung an die Institution. Problematisch ist z.B., so Lena Schneiders Diagnose des französischen Gegenwartstheaters, dass schwarze Darsteller noch immer viel zu häufig ‚Diener oder Dealer‘ oder anders stigmatisierte Rollen spielen (Schneider 2015). Exemplarisch sei dafür die prestigeträchtige Comédie Française angeführt: Das einzige schwarze Ensemble-Mitglied, der Kameruner Bakary Sangaré, spielt i.d.R. in Europa gestrandete afrikanische Migranten oder Asylsuchende (wie auch in der Pariser Inszenierung von Lohers Unschuld 2015). Mit Blick auf die Rezeption stellt sich auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der bestehenden Strukturen. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der deutschen Bevölkerung, der nie oder selten kulturelle Angebote wahrnimmt, bei über 50 % liegt (vgl. Zentrum für Audience Development 2009: 2), muss gerade auch das Theater seine Relevanz in einer heterogenen Gesellschaft deutlich machen.
Grundsätzlich steht die Frage nach eigener und zugesprochener Handlungsfähigkeit zur Debatte – wie auch nach Möglichkeiten eines Empowerment. Für diese Perspektive ist ein sozialwissenschaftliches Fundament erforderlich. Produktiv einzubeziehen sind – mit Blick auf die Verarbeitung der Flüchtlingskrise auf deutschen und französischen Bühnen – wesentliche Positionen der aktuellen sozialpolitikwissenschaftlichen Grenzregime-Forschung (Transit Migration Forschungsgruppe 2007, Hess/Kasparek 2010, Klepp 2011, Hess 2013, Hess/Kasparek/Kron u.a. 2017). Statt eine Viktimisierung und das Problem der Illegalität der Flüchtlinge zu betonen, kann so auch eine individuelle Handlungsmacht dieser ‚Grenzgänger‘ aufgezeigt werden, ohne real existierende Machtverhältnisse (etwa durch ökonomische Zusammenhänge und Verteilung der Ressourcen) zu verschleiern. Betrachtet man jedoch die Konzeptualisierung der europäischen Migrationspolitik sowohl in politischen als auch in wissenschaftlichen Arbeiten als ‚Festung Europa‘ oder die viktimisierende Rede von Flüchtlingen in den Medien, offenbart sich ein anderes Bild. Hier wird der Migrant nicht als Akteur dargestellt, der sein Recht auf Bewegungsfreiheit praktiziert (Heimeshoff/Hess/Kron u.a. 2014: 12), sondern „nahezu ausschließlich als Opfer der Grenzsicherungsmaßnahmen dieser Festung“ (Klepp 2011: 27). Hess fordert dazu auf, „ausgehend von der ‚Kraft der Migration‘ den geschichtlichen Verlauf (neu) zu denken“ und „die Migration als wesentlichen Beweger der Geschichte einzusetzen“ (Hess 2013: 119). Die Autor/innen des Bandes Der lange Sommer der Migration (Hess/Kasparek/Kron u.a. 2017: 6) sprechen bewusst nicht von einer ‚Flüchtlingskrise‘, sondern von einer kurzzeitigen Niederlage der europäischen Mobilitätsordnung und des europäischen Grenzregimes (welches über offene innereuropäische Grenzen und eine rigide Außengrenzsicherung funktioniert). Die Grenzen Europas sind nicht ausschließlich die klar gezogenen Linien der Nationalstaaten, sondern dynamische Aushandlungsräume, „an denen sich Kämpfe um die Neuzusammensetzung von Arbeit und Kapital, um Staatlichkeit, Rechte und soziale Ungleichheiten verdichten“ (Heimeshoff/Hess/Kron u.a. 2014: 9). Mit der Migration zu denken, bedeutet, eine offenere Haltung gegenüber scheinbaren identitären und nationalen Sicherheiten einzunehmen (Chambers 2012; Nail 2015). Außerdem drängt sich die Frage auf, warum
das Thema Migration praktisch alle anderen Themen wie Klimawandel, soziale Ungleichheit, zerfallende Staaten, also die eigentlichen Ursachen der Migration von den Titelseiten der öffentlichen Medien verdrängt (Bauman 2016).
Das Theater dient hier als alternativer und sinnlich-erweiterter Verhandlungsraum, der kritische Sichtweisen und Reflexionsebenen eröffnet und andere Konzepte erprobt. In einigen Stücken des Betrachtungszeitraums sind z.B. originelle Perspektivverschiebungen zu konstatieren, die den Blick auf die ‚Flüchtlingsfrage‘ verändern. Beispiele sind ein Stück über die Deutschen als Migrantengruppe in Österreich (Rupert Henning/Florian Scheuba: Cordoba – das Rückspiel, 2010), ein Stück über weiße Schiffbrüchige im Mittelmeer, die nach Libyen abgeschoben werden (Richard Schuberth: Frontex – Keiner kommt hier lebend rein, 2014) oder ein Stück über eine internationale Studierenden-WG, die durch einen bürokratischen Fehler als Familie eingeordnet wird und nun dem Bild der perfekten deutschen Familie zu entsprechen versucht (Stefan Vögel: Achtung Deutsch, 2013).