MIGRATION UND FLUCHT

THEATER ALS VERHANDLUNGS- UND PARTIZIPATIONSRAUM IM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN VERGLEICH (1990 BIS HEUTE)

Theater ...

3d.Theater, Migration und Gender

Eine Zuspitzung der Fragestellung drängt sich auf, wenn man die beiden großen Querschnittsthemen Migration und Gender oder auch kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz intersektional verschränkt (Weiershausen 2006 u. 2013, Febel/Struve/ Ueckmann 2007, Ueckmann 2012 u. 2015). So können bestehende und potentiell neue geschlechterbezogene Narrative der Migration aufgedeckt werden – angesichts öffentlicher Diskussionen über ‚Sex-Mobs‘ und Schwimmbad-Verbote für muslimische Männer eine brisante Aufgabe. Die so genannte „Maskulinisierung öffentlicher Räume“ (Nassehi 2015, Fleischhauer 2015) gilt es zu hinterfragen. Inspiriert von der Kritischen Männlichkeitsforschung (Bourdieu 1998, Connell 2005 u. 2014, Böhnisch 2012) verspricht die Frage, welche Narrative gerade arabischen und afrikanischen, häufig islamisch geprägten migrantischen Männern zur Verfügung stehen, aufschlussreich zu sein. Und warum sind plötzlich Gendergleichheit und die Anrufung von Gender-Aspekten in den migrationspolitischen Diskursen ein so zentrales Thema? Im Vergleich zur ‚fremden Frau‘, die bereits seit längerem im Blick des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses steht, ist dies in den Refugee Studies oder Border Studies bislang kaum untersucht (Neuhauser/Hess/Schwenken 2017: 184).
Damit geht die wissenschaftskritische Frage einher, wie im Laufe der Jahrzehnte auf Geschlechterungleichheit und Migration geschaut wurde bzw. wird (so kann eine Heirat auf der Flucht weit mehr Schutzfunktion haben als der Begriff ‚Zwangsheirat‘ impliziert; und nicht selten ist die Zwangsrekrutierung von jungen Männern ein zentraler Fluchtgrund). Mit der „Ethnisierung von Sexismus im Einwanderungsdiskurs“ gibt Margarete Jäger 1999 eine erste genderkategoriale Analyseperspektive. Gabriele Dietze spricht aktuell von „Ethnosexismus“ (2016) und zielt damit auf die Tatsache, dass über Othering-Prozesse die eigene westliche Identität als liberale und daher Frauenrechte schützende behauptet wird (grundlegend dazu bereits Spivak 1988). Ticktin nennt dieses Vorgehen einen Kampf gegen Sexismus mit Hilfe von Rassismus (Ticktin 2008: 865). Ein solcher Rekurs auf Frauenrechte mittels ‚Rettungsrhetorik‘ legitimiere eine restriktive Asylpolitik. Auch die Migrationsforscherinnen Neuhauser/Hess/Schwenken (2017: 177) diagnostizieren ein „Gendering der Flüchtlingskrise“, welches Missstände stark ethnisiere. Außerdem lasse sich die Flucht von Frauen oftmals nicht in die übliche Vorstellung des ‚politischen Flüchtlings‘ einpassen (ebd., 189), so dass es zu einer Unsichtbarkeit geflüchteter Frauen komme, obgleich Frauen weltweit die Hälfte aller Geflüchteten ausmache. Hier lässt sich methodisch an den Ansatz der Intersektionalität anschließen, der auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw zurückgeht, die (am Fall von häuslicher Gewalt gegen schwarze Frauen) Prozesse einer doppelten – sexistisch und rassistisch bedingten – Marginalisierung aufgezeigt hat (Crenshaw 2003). Solche Prozesse, bei denen sich mehrere diskriminierende Diskurse überlagern, sind nicht rein additiv, sondern als sich verstärkende Wechselwirkung zu verstehen und erfordern eine komplexe Analyse, die den Zusammenhängen nachgeht.
Die Theaterbühne erhält auch hier eine herausragende Rolle zur Aushandlung herrschender Bilder und Zuschreibungen. Koffi Kwahulés Bintou (1997), Marie NDiayes Stück Papa doit manger (2003), Feridun Zaimoglus Schwarze Jungfrauen (2006) über so genannten Neo-Muslimas, Richard Schuberths Frontex – Keiner kommt hier lebend rein (2014), Christelle Evitas Performance Mais je ne suis pas noire (2015) oder Dantons Tod. Ein postkoloniales Theaterstück nach Georg Büchner von Gintersdorfer/Klaßen (2016) etwa spielen – wie schon Jean Genets Klassiker Les Nègres (1959) – mit unterschiedlichen Diskursen über Schwarze, Weiße oder auch ‚mulattische‘ Menschen und mit spezifischen Geschlechterdiskursen. Insbesondere Marie NDiayes Stück illustriert in grotesk-realistischer Weise die Präsenz des afrikanischen Migranten in Frankreich und die Fallstricke schwarz/weißer Liebesbeziehungen und Elternschaft im Kontext von Rassismus und Armut. Papa doit manger ist eine Karikatur des afrikanischen Patriarchen in Europa. Die Migrationsgeschichte hat Papa in seiner sozialen Rolle geschwächt. Er ist kein mobiles, kosmopolitisches, ‚hybrides‘ Subjekt im Sinne Homi Bhabhas, sondern ein Anti-Held. Bemerkenswerterweise wird hier über die Geschlechterbeziehung die postkoloniale, asymmetrische Beziehung zwischen Frankreich und Westafrika ausagiert. Das Stück zeigt, dass sich Alterität nicht im Außen situiert, sondern längst Einzug gehalten hat in die intimsten Familien- und Liebesbeziehungen. Es ist eine Komödie, in der man nicht lachen kann. Das erinnert an Bernard-Marie Koltès’ Boulevardkomödie Le Retour au désert (1988), die das gewaltvolle Verhältnis von Frankreich und Algerien entlang einer Bruder-Schwester-Geschichte erzählt. Bei Koltès überschneiden sich ebenfalls in asymmetrischer Weise Mann und Frau, Frankreich und Algerien, Französisch und Arabisch. Auch Schuberths ‚mediterrane Groteske‘ Frontex: Keiner kommt hier lebend rein stellt das Zusammenwirken rassistischer und sexistischer Diskurse aus: Die einzig schwarze Figur ist ein zunächst stummer Flüchtling, der nur als „Der schwarze Körper“ Erwähnung findet. Im Stück wird auf theatrale Art danach gefragt, wie sich die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer künstlerisch und journalistisch verwerten lässt, wobei die Situation abgründig zugespitzt wird, indem sich politisch Korrekte von Political Incorrectness sexuell angezogen fühlen.
Sowohl Marie NDiaye als auch Richard Schuberth – und vor ihnen Jean Genet, Bernard-Marie Koltès oder auch Rainer Maria Fassbinder mit seinem Stück Katzelmacher
(1968) – offenbaren und unterlaufen in ihren Theaterstücken rassistische und sexistische, die gesamte Gesellschaft durchwirkende Diskurse, nämlich jene der Entwertung und jene der Idealisierung bzw. Viktimisierung oder auch jene der männlichen Täterschaft und der weiblichen Vulnerabilität. Allgemein verbreitete fixierte Vorannahmen werden im Theater wieder in Bewegung gebracht.