MIGRATION UND FLUCHT

THEATER ALS VERHANDLUNGS- UND PARTIZIPATIONSRAUM IM DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN VERGLEICH (1990 BIS HEUTE)

Verhandlungsraum

3b.Theater als Verhandlungsraum

In der Flüchtlingskrise offenbart sich, wie wenig selbstverständlich in westeuropäischen Gesellschaften der Umgang mit Migration und Alterität immer noch ist. Integration wird vielfach mit Assimilation gleichgesetzt, was eine andere Form der Missachtung darstellt. Eine Herausforderung liegt darin, ‚Fremde‘ in einer Andersartigkeit, die nicht immer verstehbar ist, anzuerkennen. Hier kann das Theater einen mehrdimensionalen Verhandlungsraum schaffen.
Die literaturwissenschaftliche Untersuchung lässt sich dabei mit alteritätsphilosophischen Ansätzen schärfen. Bernhard Waldenfels’ responsive Ethik, die er in seiner Phänomenologie des Fremden (2006 u. 2010) entfaltet, versucht, den Fallstricken einer verstehenden Aneignung, Neutralisierung oder Normalisierung des ‚Fremden‘ zu entgehen. Er setzt bei einer Fremderfahrung an, die durch die Appelle des Fremdartigen ihre Gestalt gewinnt. Nicht das hermeneutische Verstehen des ‚Fremden‘ ist das Ziel, sondern das Antworten (nicht gewählt und unvermeidlich) auf seine als vorgängig gedachten Ansprüche. Damit ist die Frage einer Anerkennung des Anderen verbunden, die sich von einer Haltung der Toleranz (als Duldung) grundsätzlich unterscheidet (Weiershausen/Wilke 2011: 9f.). Im Feld der seit den 1990er Jahren entwickelten politik- und sozialwissenschaftlichen Anerkennungstheorien (zur Verbindung mit der Literaturwissenschaft: Albrecht 2012) sind insbesondere die (inter)subjektiven Ansätze von Axel Honneth und Judith Butler für unser Projekt fruchtbar zu machen. Sie richten sich auf den ‚Menschen in Beziehung‘, und zwar in Beziehung zum anderen Menschen (Honneth)
oder zur Gesellschaft (Butler): gerade auf das also, was im Drama gattungstypisch im Zentrum steht. Butler (2003) betrachtet die Subjekt-Werdung des Einzelnen über dessen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Ordnung. Mit dem doppeldeutigen Begriff der „subjection“ beschreibt Butler eine unabschließbare Wechselwirkung zwischen Unterwerfung unter Normen und performativem Subjektentwurf (Butler 1997: 2). Honneth hingegen analysiert die Interaktion zwischen Subjekten, und zwar auf drei verschiedenen Ebenen: Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, Rechtsverhältnisse und Wertegemeinschaften (Honneth 1992: 211). Die letztgenannte Ebene (Anerkennung durch soziale Wertschätzung im Rahmen einer Wertegemeinschaft) lässt sich für den Umgang mit Alterität weiterentwickeln: Denn auf dieser Ebene geht es nicht nur um Anpassung, sondern auch um die Besonderheit einer Person – ihre individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften, die allerdings vom Gegenüber als wertvoller Beitrag zur Gemeinschaft bestätigt werden müssen. Da solche Bewertungen immer auch in einen Kampf um Deutungsmacht innerhalb der Gesellschaft eingebunden sind, kann die Theaterbühne dabei eine wichtige Rolle einnehmen: zur Mediation, Zurschaustellung und dialogischen Verhandlung herrschender Bilder und wertender Zuschreibungen.
Bei diesen Prozessen werden eingespielte Deutungsmuster aktiviert, durch die ‚das Fremde‘ in den eigenen kulturellen Verstehenshorizont eingepasst wird. Diskursive Macht ist dabei immer mit ökonomischer Macht verschränkt. Hier lässt sich der Ansatz der responsiven Ethik aufgreifen und sowohl mit Emmanuel Levinas‘ radikaler heteronomen, sprich fremdbestimmten Ethik (Levinas 1963) als auch mit der französischsprachigen postkolonialen Kulturtheorie weiterdenken, wie sie insbesondere von Edouard Glissant entwickelt wurde. Das Moment der intensiv erlebten Differenz, welches nicht im eigenen Verstehen aufgeht, gipfelt für Glissant in einem Konzept der Kreolisierung (Glissant 2009: 64-67, Müller/Ueckmann 2013) und einem widerständigen Recht auf Opazität (le droit à l’opacité), welches erst Beziehung (Relation) ermögliche. Opazität steht im Gegensatz zum Transparenz-Anspruch der Aufklärung (Glissant 1996 und 2005, Ueckmann 2013 u. 2014: 357-450). Solch ein Umgang mit dem Anderen erfordert ein Zulassen von neuen Erfahrungen. Hier erschließt sich ein besonderes Potential des Theaters im Umgang mit Alterität, denn es geht darum, über subalternes Wissen, Grenzdenken und performative Ausdrucksformen neue epistemologische Räume zu etablieren.